Donnerstag, 16. Februar 2023

Die Ukraine und der 8. Mai

Andreas Kappeler: Der Historiker erforscht die Geschichte der Ukraine seit Jahrzehnten. (Quelle: Andreas Kappeler)

.. Seit 1941 war die Ukraine einer der Hauptschauplätze des Zweiten Weltkriegs. Diese Tatsache ist vielleicht in der bundesdeutschen Öffentlichkeit heute nicht ausreichend publik.

Dieser Krieg war für den westlichen Teil der Sowjetunion mit ungeheuren Opfern verbunden. In der westlichen Betrachtungsweise des Zweiten Weltkriegs herrscht allerdings ein Denkfehler vor – und zwar die Vorstellung, dass lediglich die Russen die Befreier vom Nationalsozialismus gewesen seien. Dem Kreml ist diese Sicht auf den Zweiten Weltkrieg bis heute nicht unrecht. Tatsächlich aber kämpften Menschen zahlreicher Nationen der Sowjetunion gegen die Nationalsozialisten. Besonders den Ukrainern als zweitgrößte Nationalität kommt ein großes Verdienst am Ende des "Dritten Reichs" zu.

Heute stellt Putin den Krieg gegen die Ukraine als eine Art Fortsetzung des Großen Vaterländischen Krieges dar, den Stalin 1941 gegen die deutschen Invasoren ausgerufen hatte. Etwa indem er die ukrainische Regierung unter Präsident Wolodymyr Selenskyj als "Nazis" diffamiert.

Das ist reine Propaganda. Selenskyj ist jüdischer Herkunft, drei seiner Verwandten sind im Holocaust ermordet worden. Sein Großvater hat in der Roten Armee gekämpft. Ebenso wie zahlreiche andere Ukrainer. Zur historischen Wahrheit gehört aber auch die Tatsache, dass es im Westen des Landes nationalistische Gruppen von Ukrainern gegeben hat, die mit den Deutschen zusammengearbeitet haben. Und sich auch am Holocaust beteiligten. Die ukrainische Führung von heute deswegen als "Nazis" zu bezeichnen, ist absurd. Antisemitismus spielt heute in der Ukraine kaum eine Rolle.

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Unter gewaltigen Verlusten will Wladimir Putin die Ukraine unterwerfen, woher aber stammt dieser Hass auf das kleinere Nachbarland? Historiker Andreas Kappeler weiß die Antwort.

Lange Zeit ward die Ukraine im Westen wenig beachtet, galt gar als ein verloren gegangener Teil Russlands. Seit etwa einem Jahr befindet sich das Land nun im Abwehrkampf gegen die russischen Invasoren – und im Mittelpunkt der globalen Aufmerksamkeit.

Doch warum bekriegt Wladimir Putin die Ukraine, spricht ihr gar das Existenzrecht ab? Und weshalb fürchtet sie Russlands starker Mann auf gewisse Weise? Diese Fragen beantwortet mit dem Historiker Andreas Kappeler einer der besten Kenner der ukrainischen und russischen Geschichte.

t-online: Professor Kappeler, 2014 annektierte Russland die Krim, 2022 wollten russische Truppen Kiew im Handstreich nehmen. Warum kann Wladimir Putin nicht von der Ukraine lassen?

Andreas Kappeler: Russland hat die Ukraine niemals als ebenbürtige Nation anerkannt. In seinem 2021 veröffentlichten Aufsatz "Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer" fasste Wladimir Putin seine Ansichten über die Ukraine ziemlich präzise zusammen: Eigentlich sei die Ukraine kein selbstständiger Staat, keine eigene Nation, sie gehöre vielmehr zu Russland.

Diese Sichtweise war allerdings nicht nur auf Russland beschränkt. Noch 2014 äußerte der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt seine Zweifel, ob "überhaupt eine ukrainische Nation" existiere.

Helmut Schmidt hat sich gründlich geirrt. Aber diese Äußerung verdeutlicht, wie verbreitet die russische Sichtweise auf die Ukraine selbst im Westen gewesen ist. Die Ukraine war in unserer Sichtweise ein weißer Fleck, angeblich ein Land ohne eigene Kultur, Sprache und Geschichte. Diese Ansicht – die sich stark mit der Wladimir Putins deckt – war bis vor Kurzem weit verbreitet und blieb leider oft unwidersprochen.

Nun hat die Ukraine aber selbstverständlich ihre eigene Geschichte. Ihr Streben nach Freiheit will Putin nicht akzeptieren.

Für Putin ist das ein Fall von Verrat. Denn das russische national-imperiale Narrativ duldet keine Abweichungen: Wenn die Ukraine nach Unabhängigkeit strebt, stellt sie sich in Putins Weltsicht gegen Russland und die sogenannte russische Welt.

Andreas Kappeler, Jahrgang 1943, lehrte von 1982 bis 1998 Osteuropäische Geschichte an der Universität Köln, anschließend bis zu seiner Emeritierung an der Universität Wien. Der Historiker ist Mitglied der Österreichischen wie der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften. Zur Geschichte Russlands wie der Ukraine hat Kappeler mehrere Standardwerke verfasst, darunter die "Kleine Geschichte der Ukraine" und "Ungleiche Brüder. Russen und Ukrainer vom Mittelalter bis zur Gegenwart", das soeben in einer aktualisierten Neuausgabe erschienen ist.

Eines Ihrer Bücher über die Geschichte Russlands und der Ukraine trägt den Titel "Ungleiche Brüder". Inwiefern sind Russen und Ukrainer Brüder?

Russen und Ukrainer sind insofern "Brüder", als sie sich sprachlich, religiös und kulturell nahestehen. In ihrer Geschichte und ihren politischen Traditionen unterscheiden sie sich aber wesentlich. Im mittelalterlichen Großreich der Kiewer Rus lebten die Vorfahren der heutigen Russen, Ukrainer und Belarussen gemeinsam in einem Herrschaftsverband, Einheit stiftete dabei das orthodoxe Christentum …

… im 13. Jahrhundert fielen aber im sogenannten Mongolensturm Invasoren ein, 1240 fiel Kiew nach kurzer Belagerung.

Richtig. Im Nordosten entstand nach dem Zerfall der Kiewer Rus schließlich das Zartum Moskau, ein Staatswesen, das sich später zum Russländischen Imperium weiterentwickelte und im frühen 18. Jahrhundert als europäische Großmacht zu etablieren vermochte. Die Vorfahren der Ukrainer hingegen gerieten unter die Herrschaft des Königreichs Polen-Litauen. Erst später unterstellten sich zentrale und östliche Teile der heutigen Ukraine Moskau, im Zuge der Zweiten Teilung Polens 1793 gerieten auch größere Teile der westlichen Gebiete der Ukraine unter die Kontrolle Russlands.

Also existierte lange Zeit faktisch eine Trennung.

Die Geschichte Russlands und der Ukraine verlief über Jahrhunderte getrennt, ja. Ohne dieses Wissen lässt sich die heutige Konfliktlage schwer verstehen. Die Ukraine hat über polnische Vermittlung zahlreiche Einflüsse aus dem Westen erfahren – dazu gehören Renaissance und Humanismus, Reformation und Gegenreformation wie auch das deutsche Stadtrecht. Für Russland gilt dies nicht oder nur sehr eingeschränkt. Heute stellen diese historischen westlichen Einflüsse ein wichtiges Argument der Ukraine dar, um ihre Zugehörigkeit zu eben diesem Westen zu betonen.

Nun beanspruchen sowohl die Ukraine als auch Russland die Deutungshoheit über die zum Mythos verklärte Kiewer Rus aus dem Mittelalter. Deren Herrscher Fürst Wolodymyr (Russisch: Wladimir) wurde in Kiew mit einem Denkmal geehrt, 2016 weihte Wladimir Putin dann in Moskau ebenso ein Denkmal als Konkurrenz ein.

Die Geschichte der Ukraine ist durch eine lange Staatslosigkeit geprägt. Deswegen ist es für sie überaus wichtig, einen mittelalterlichen Anknüpfungspunkt zu besitzen, eine Art Goldenes Zeitalter, auf das man sich berufen kann. Das bereits erwähnte national-imperiale Narrativ Russlands wiederum behauptet, dass Russland und nicht die Ukraine Erbe des Kiewer Reiches sei und die "Kleinrussen", wie die Ukrainer im Zarenreich bezeichnet worden sind, stets eine "Wiedervereinigung" mit ihren russischen "Brüdern" angestrebt hätten. 1991 haben sich die Ukrainerinnen und Ukrainer während des Zerfallsprozesses der Sowjetunion dieser Sichtweise zum Trotz mit großer Mehrheit für die Unabhängigkeit ihres Landes ausgesprochen.

Das wird ihnen Putin niemals verzeihen. Seiner Meinung nach hat die Ukraine 1991 mit ihrer Unabhängigkeit und der Hinwendung zum Westen die Einheit der "Russen" zerstört. Mit seinem Angriffskrieg will Putin die Ukraine wieder mit Gewalt in die "russische Welt" zurückführen.

Einen Ruf als "Verräter" haben die Ukrainer allerdings bereits seit dem frühen 18. Jahrhundert in Russland.

In der Tat. Im Jahr 1648 rebellierten die Ukrainer gegen die Herrschaft Polens, und die Saporoger Kosaken begründeten einen de facto unabhängigen Herrschaftsverband, das sogenannte Hetmanat, das in der Ukraine heute als erster ukrainischer Nationalstaat glorifiziert wird. Schon sechs Jahre später unterstellte sich das Hetmanat dem Zaren in Moskau. Die russischen Herrscher wiederum demontierten die anfangs gewährten Autonomierechte nach und nach. 1708 brach der Kosakenhetman Iwan Mazepa deshalb mit Russland – und verbündete sich mit den Schweden, die sich damals im Krieg mit Zar Peter I. befanden.

Der Konflikt endete für Schweden und Kosaken allerdings im Desaster.

Zar Peter, dem später der Beiname "der Große" verliehen wurde, siegte. Und bis heute wird das ukrainische Unabhängigkeitsstreben in Russland als "Mazepismus" bezeichnet. Was alles andere als freundlich gemeint ist. Die Ukrainer sollten dann nach der Niederlage der verbündeten Schweden und Kosaken 1709 in der Schlacht von Poltawa Russland untertan sein. Bis 1922 ausgerechnet der Revolutionsführer Lenin die Ukraine in Form einer Sowjetrepublik endgültig "wiederbelebte".

Zunächst war es nicht Lenin, sondern es waren die Ukrainer, die nach dem Sturz des Zaren und der Machtergreifung der Bolschewiki im Januar 1918 in Kiew die unabhängige Ukrainische Volksrepublik ausriefen – die sowohl von der Roten Armee als auch von konterrevolutionären "Weißen" bekämpft worden ist. Der Großteil der Ukraine ist dann als Ukrainische Sowjetrepublik Teil der Sowjetunion geworden. Zum ersten Mal ist die ukrainische Nation damals von Russland offiziell anerkannt worden, die ukrainische Sprache und Kultur fanden in den 1920er-Jahren Förderung.

Womit allerdings weder der spätere sowjetische Diktator Josef Stalin noch Wladimir Putin einverstanden waren.

Putin gibt heute Lenin die Schuld: Dieser habe die ukrainische Nation "erfunden" und der Ukraine mittels "verbrecherischer Grenzen" 1922 überhaupt erst zur Existenz verholfen. Und damit Russland geschadet. Stalin wiederum misstraute der Ukraine bereits seit langer Zeit – und ergriff seit 1930 brutale Maßnahmen. Die schlimmste war die absichtlich herbeigeführte Hungersnot von 1932/1933, in der Ukraine Holodomor genannt, die circa vier Millionen Ukrainerinnen und Ukrainern das Leben kostete. Auch andere Ethnien litten unter der Hungersnot, aber keine Gruppe derart wie die Ukrainer.

Stalin praktizierte also einen Massenmord, um die Ukraine zu "disziplinieren".

Richtig. Es ist diese ungeheure Gewalterfahrung, die die Geschichte der Ukraine im 20. Jahrhundert kennzeichnet. Mehr als 14 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer starben zwischen 1914 und 1945 einen gewaltsam herbeigeführten Tod: im Russischen Bürgerkrieg, dem Holodomor, dem Stalinschen Terror und zwei Weltkriegen. Diese Gewalterfahrung ist im kollektiven Gedächtnis der Ukrainer tief verankert, und sie wird heute durch den brutalen Angriffskrieg Russlands wiederbelebt.

Seit 1941 war die Ukraine einer der Hauptschauplätze des Zweiten Weltkriegs. Diese Tatsache ist vielleicht in der bundesdeutschen Öffentlichkeit heute nicht ausreichend publik.

Dieser Krieg war für den westlichen Teil der Sowjetunion mit ungeheuren Opfern verbunden. In der westlichen Betrachtungsweise des Zweiten Weltkriegs herrscht allerdings ein Denkfehler vor – und zwar die Vorstellung, dass lediglich die Russen die Befreier vom Nationalsozialismus gewesen seien. Dem Kreml ist diese Sicht auf den Zweiten Weltkrieg bis heute nicht unrecht. Tatsächlich aber kämpften Menschen zahlreicher Nationen der Sowjetunion gegen die Nationalsozialisten. Besonders den Ukrainern als zweitgrößte Nationalität kommt ein großes Verdienst am Ende des "Dritten Reichs" zu.

Heute stellt Putin den Krieg gegen die Ukraine als eine Art Fortsetzung des Großen Vaterländischen Krieges dar, den Stalin 1941 gegen die deutschen Invasoren ausgerufen hatte. Etwa indem er die ukrainische Regierung unter Präsident Wolodymyr Selenskyj als "Nazis" diffamiert.

Das ist reine Propaganda. Selenskyj ist jüdischer Herkunft, drei seiner Verwandten sind im Holocaust ermordet worden. Sein Großvater hat in der Roten Armee gekämpft. Ebenso wie zahlreiche andere Ukrainer. Zur historischen Wahrheit gehört aber auch die Tatsache, dass es im Westen des Landes nationalistische Gruppen von Ukrainern gegeben hat, die mit den Deutschen zusammengearbeitet haben. Und sich auch am Holocaust beteiligten. Die ukrainische Führung von heute deswegen als "Nazis" zu bezeichnen, ist absurd. Antisemitismus spielt heute in der Ukraine kaum eine Rolle. Nun haben sich Russland und die Ukraine tatsächlich zu "Brüdern" entwickelt, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Russland ist wie viele andere ehemalige Sowjetrepubliken eine Autokratie, die Ukraine eine Demokratie.

Seit der Unabhängigkeit 1991 hat die Ukraine mit vielen der Probleme zu kämpfen gehabt, die auch Russland zu schaffen machten. Die Wirtschaft siechte dahin, einige Geschäftstüchtige avancierten zu Oligarchen, die Etablierung eines westlich geprägten politischen Systems gelang nur teilweise. Immerhin führten Wahlen in der Ukraine regelmäßig zu einer politischen Neuorientierung, ganz im Gegensatz zu Russland, wo Präsident Putin seit mehr als 20 Jahren an der Macht ist. Außerdem entwickelte sich eine lebendige Zivilgesellschaft, die massenhaft gegen politische Missstände demonstrierte. Wie sie es 2004 in Form der Orangenen Revolution tat, als sie erfolgreich gegen die gefälschte Wahl des von Russland unterstützten Wiktor Janukowytsch zum ukrainischen Präsidenten protestierte. Und eine Wiederholung der Wahl erzwang, aus der der westlich orientierte Wiktor Juschtschenko als Sieger hervorging.

Putin hatte Janukowytsch voreilig zu seiner Wahl beglückwünscht. Die Annullierung der Wahl war für ihn eine schwere Niederlage, er kann keine Niederlagen verkraften. Unter Juschtschenko verschlechterte sich das Verhältnis zwischen den beiden Staaten, und es setzte eine scharfe anti-ukrainische Propaganda in den russischen Medien ein.

2013 und 2014 folgten die Proteste des sogenannten Euromaidan. Diese richteten sich gegen den 2010 doch noch zum ukrainischen Präsidenten gewählten Janukowytsch und dessen von Russland erzwungene Weigerung, ein Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterzeichnen. Kurz darauf annektierte Russland die Krim und zettelte den Krieg gegen die Ukraine im Donbas an.

Der von einer Volksbewegung herbeigeführte Sturz des gewählten Präsidenten und die Hinwendung zum Westen weckten in Putin die Angst, dass sich die russische Zivilgesellschaft an der Ukraine ein Beispiel nehmen und seinen eigenen Sturz und einen Wechsel des politischen Systems auslösen könnte.

Besteht denn Hoffnung, dass sich Russland irgendwann in der Zukunft demokratisieren wird?

Als auf die Vergangenheit ausgerichteter Historiker scheue ich mich vor Prognosen. Die Dominanz des Staates über die Gesellschaft ist stark ausgeprägt in der Geschichte Russlands, und diese Last der Geschichte ist schwer abzuwerfen. Andererseits ist die Geschichte offen. Immerhin erlebte Russland nach der Februarrevolution von 1917 und wieder am Ende der 1980er- und in den 1990er-Jahren kurze Phasen der Demokratisierung. Das Manko an Staatlichkeit, das wiederum so lange die Ukraine geprägt hat, hat dagegen positive Auswirkungen. Vor allem in Form einer starken Zivilgesellschaft, die sich dem Staat widersetzt und heute der russischen Aggression mutig entgegentritt.

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